Ethische Fragen der Pränataldiagnostik

Im November 2021 unterhielt sich Prof. Dr. Michael Boecker, Prodekan des Fachbereichs Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Dortmund, mit der Kinderkrankenschwester Annika Ewe und dem ehemaligen Bundestagsabgeordneten René Röspel über ethische Fragen der pränatalen Diagnostik.

Michael Boecker:

Die PND wird häufig als unausweichlicher Teil der Schwangerschaftsvorsorge dargestellt. Was sagen Sie dazu?

Annika Ewe:

Als unausweichlichen Teil der Schwangerschaftsvorsorge würde ich die PND auf keinen Fall bezeichnen. Sie kann ein Teil der Schwangerschaftsvorsorge sein, der freiwillig und gut durchdacht ergänzt wird. Eltern sollten eine ausreichende Aufklärung erhalten, welchen Nutzen und welche Gefahren die Untersuchungen darstellen.

René Röspel:

Alle Eltern sorgen sich darum, dass ihr Kind gesund bleibt. Alle werdenden Eltern wünschen sich, dass ihr Kind gesund zur Welt kommt. Das ist erstmal ganz normal. PND kann Fluch und Segen zugleich sein. PND ist Segen, wenn damit beim Kind eine Krankheit festgestellt wird, die behandelt werden kann. PND kann zum Fluch werden, wenn daraus ständige Unsicherheit und Zweifel entstehen und Schwangerschaft wie eine Krankheit behandelt wird. Meine Mutter erzählte mir einmal, dass sie (in den 1960er Jahren) zum Arzt gegangen sei und er gesagt habe: »Herzlichen Glückwunsch, Sie sind schwanger! Kommen Sie in sechs Monaten wieder!« Heutzutage führen die vielen Untersuchungen und medizinischen Möglichkeiten zur ständigen Befürchtung, es könne etwas schieflaufen.

Deshalb ist eine gute Beratung unverzichtbar, was mit einer PND gemacht werden kann, und welche Folgen daraus entstehen können. Dazu gehört auch, darüber aufzuklären, was Leben mit Behinderung bedeutet. Am Ende steht eine individuelle Entscheidung der Eltern. Meine Frau und ich waren uns vor den Schwangerschaften einig, »alles zu nehmen, was kommt«, aber wir sind dennoch froh, gesunde Kinder zu haben.

Annika Ewe wurde im Jahr 1979 in Olsberg im Hochsauerlandkreis geboren. Sie war nach ihrer Ausbildung zur Kinderkrankenschwester auf der neonatologischen Station in Hagen tätig, bevor sie dann zwölf Jahre auf der Kinderintensivstation/Perinatalzentrum Level 1 arbeitete. Seit 2015 ist sie beim Caritasverband in den Frühen Hilfen angestellt, um Familien mit mehr Unterstützungsbedarf zu begleiten und den Start ins Leben zu erleichtern.

Michael Boecker:

Kritiker*innen sprechen auch von einem »Geschäft mit der Angst« und sehen in der PND die Gefahr eines »gesellschaftlich akzeptierten Instrumentariums zur Selektion«. Welche ethischen Fragestellungen sind aus Ihrer Sicht zu klären?

Annika Ewe:

Ja, es kann ein Geschäft mit der Angst sein... Einige Eltern entscheiden sich aus Unsicherheit/Unwissenheit oder Druck von außen für die PND. Andere bewusst für diesen Schritt, um Erkrankungen auszuschließen. Dies bedeutet natür- lich manchmal auch Selektion, wenn sich die Entscheidung gegen das Austragen des Kindes richtet. Die Akzeptanz in der Gesellschaft behinderten Menschen gegenüber, ist in den letzten Jahren etwas gestiegen, doch gilt noch lange nicht als „Normal“. Doch was ist normal...? Ist ein Mensch, der anders als die Mehrheit ist, krank? Wann ist ein Leben nicht lebenswert? Wer entscheidet das? Es gibt so viele ethische Fragen ... doch diese werden oft hinten angestellt, weil einfach andere Prioritäten gesetzt werden, die in der Gesellschaft wichtiger sind...

René Röspel:

Sicher geht es den beteiligten Ärzt*innen nicht darum, Ängste zu schüren oder nur Geld zu verdienen. Aber PND ist zu einer normalen, selbstverständlichen Anwendung geworden und deshalb gesellschaftlich akzeptiert. Ich sehe die Gefahr, dass aus dieser »Routine« heraus eine umfassende und tiefergehende Beschäftigung mit PND (und Beratung) und die daraus mögliche Konsequenz der Beendigung eines werdenden Lebens zu kurz kommen. Von »Selektion« im Sinne einer Auswahl (zwischen verschiedenen Varianten) würde ich nicht sprechen, weil es allein um die (Ja-/Nein-)Entscheidung geht, dieses »eine« begonnene Leben fortzusetzen oder zu beenden. Diese Entscheidung anhand (i.d.R.) eines einzigen Merkmals (z.B. Vorhandensein einer Trisomie 21) zu treffen, ohne zu wissen, ob dieser Mensch nicht »trotzdem« liebenswert, klug oder gut ... sein würde, ist allerdings schwierig genug. Selektion hingegen findet z.B. mit der Präimplantationsdiagnostik statt, bei der aus mehreren Embryonen ausgewählt wird, welcher sich weiterentwickeln soll.

Michael Boecker:

Sehen Sie die Gefahr, dass sich Eltern, die sich gegen eine PND entscheiden, dafür später rechtfertigen müssen? Manche Kritiker*innen der PND sprechen hier auch von einer Verschiebung der Schuldfrage.

Annika Ewe:

Ja, aber es ist keine Gefahr der Verschiebung, sondern eine Tatsache. Eltern müssen sich regelmäßig zu ihrer Entscheidung, ein krankes Kind großzuziehen rechtfertigen. Dies fängt schon im innerfamiliären Bereich an und begleitet die Familie im Alltag.

René Röspel:

Ich habe von solchen Fällen gehört. Menschen, die sich derart äußern (»das hätte man doch vermeiden können«), sind wohl herz- und gefühllos. Weil es leider solche Menschen gibt, aber zunehmend auch Diskussionen darüber entstehen, welche Kosten im Gesundheitssystem von der Allgemeinheit solidarisch getragen werden sollen, ist die »Verschiebung der Schuldfrage« wahrscheinlich. Der Rechtfertigungsdruck von Eltern, die sich für ein Kind mit Behinderung entscheiden, wird vermutlich zunehmen. Dabei bräuchten gerade sie eine stärkere Unterstützung, das Leben mit einem Kind mit Behinderung normal zu gestalten.

René Röspel ist Diplom-Biologe und hat sich bis zu seiner Wahl in den Bundestag am Uniklinikum Essen wissenschaftlich mit Tumorforschung und der Entwicklung des Menschen befasst. Von 1998 bis 2021 war der Sozialdemokrat für den Wahlkreis Hagen/Ennepe-RuhrI direkt in den Deutschen Bundestag gewählt und hat sich mit Forschungspolitik und ethischen Fragen wie Stammzellforschung, Patientenverfügung oder Sterbehilfe befasst. Ehrenamtlich ist er u.a. Vorsitzender der AWO Ennepe-Ruhr, die u.a. drei Werkstätten für rund 600 Menschen mit Behinderung, Wohnhäuser und Integrationsbetriebe unterhält.

Michael Boecker:

Einige der bei der PND erkennbaren Krankheiten sind therapierbar, die meisten Erkrankungen jedoch nicht. Ist es nicht das Recht der Eltern und insbesondere der Frau, alle Erkenntnisse hinsichtlich möglicher Erkrankungen des Kindes einschätzen zu können?

Annika Ewe:

Eine Familie hat ein Recht dazu, ja. Es ist aber zu bedenken, dass die PND nicht grundlos oder aus dem Bauch heraus entschieden werden sollte. Viele Familien nutzen die PND, um einfach zu hören, dass alles in Ordnung ist, ohne sich vorher über etwas Gedanken zu machen. Wenn die Untersuchung dann ein auffälliges Ergebnis ergibt, bricht das komplette System zusammen. Einige wenige Erkrankungen können therapiert werden teilweise schon intrauterin. Andere Erkrankungen nicht, was ist dann die Konsequenz? Egal zu was sich die Eltern entschließen, es ist wahrscheinlich die schwierigste Entscheidung ihres Lebens. Deshalb müsste Aufklärung, individueller und intensiver durchgeführt werden.

René Röspel:

Der Wunsch der Eltern, ihren Kindern alles Leid ersparen zu wollen, ist gut und nachvollziehbar – aber er wird (leider) nicht in Erfüllung gehen. Fast alle Behinderungen (und Erkrankungen) entstehen erst nach der Geburt im Laufe des Lebens und sind auch durch PND nicht feststellbar. Eingeschränkt wird das Recht der Eltern heute schon z.B. durch das Gendiagnostikgesetz: Danach dürfen bestimmte vorgeburtliche genetische Untersuchungen nur zu medizinischen Zwecken durchgeführt werden, wenn damit genetische Eigenschaften festgestellt werden können, die die Gesundheit des Embryos und Fötus betreffen (§15 GenDG). Hier geht es auch immer um das Recht des Kindes, dass andere (auch die Eltern) nichts über seine Krankheiten erfahren.

Michael Boecker:

Die medizinische Indikation beruht auf der Erwägung, dass die Schwangere in menschlich unzumutbarer Weise überfordert würde, wenn das Austragen des Kindes von ihr verlangt würde. Das ist sehr unspezifisch. Was heißt das konkret und wer trifft hier die Entscheidung?

Annika Ewe:

Das ist für mich auf keinen Fall eine pauschale medizinische Indikation. Diese Entscheidung sollte der Frau überlassen werden, aber ohne sie dabei allein zu lassen.